Ehe [1987]
Im Mittelpunkt jeder Versammlung steht der Mensch.
Wo zwei oder drei Menschen versammelt sind,
Ist er mitten unter ihnen. Falsch. Der Volksmund sagt:
Wenn Hombre trifft auf Femina,
Dann ist auf einmal Liebe da.
Die Liebe, sie ist wunderbar,
Sie produziert ein Ehepaar. Und damit sind wir bei den drei Säulen unserer Kultur:
Hochzeit, Mahlzeit und Freizeit.
Am Anfang war die Hochzeit, also Adam und Eva.
Dann kam das Fressen, der Apfel.
Und dann die Moral, also die Freizeit.
Alles verbunden wird durch die Ehe,
Die in Hannoversch-Münden erfunden wurde,
Als Fulda sich und Werra küßten
Und daraus die Weser entstand.
Das Wesen der Ehe ist also geographischer Herkunft.
Der Vater der Ehe heißt Atlas.
Und die Mutter ist eine geborene Landkarte. Die Ehe – volkstümlich safety box
Oder l'amour s'en va –,
Die Ehe wird nicht im Himmel geschlossen.
Sie wird auf Erden abgebaut. Wie Marmor im Steinbruch,
So wird die Ehe im Ehebruch gewonnen.
Der Ehebruch ist der Rohstoff der Ehe,
Wie der Einbruch der Rohstoff des Eigentums ist.
Nur wer sich vor dem Diebstahl schützt,
Weiß, wieviel ihm sein Eigentum wert ist.
Dies gilt besonders für diejenigen,
Die aus Eigennutz und zur Befriedigung der Geschlechtslust,
Heimtückisch oder grausam oder überhaupt
Vor einem Standesbeamten oder einer Standesbeamtin
Zueinander vorsätzlich JAWOLL, IS JA SCHON GUT gesagt haben. Daß die Ehe von vorne so ausschaut wie von hinten:
EHE,
Das verbindet sie mit Otto und Anna.
Wenn Otto und Anna heiraten,
Dann rufen sie laut Hosianna.
Ansonsten sind bei der Ehe alle Vergleiche erlaubt,
Nicht aber alle Griffe.
Denn es gibt keine Versöhnung zwischen Mann und Frau,
Aber auch keine Vertöchterung.
Deshalb singt der Dichter:
Wenn Mann und Frau nach ein paar Jahren
Nicht mehr so sind, wie sie mal waren,
Dann schleicht der Liebe Glück sich fort
Und übrig bleibt der Gattenmord.
Denn es ist der Sinn der Ehe,
Daß sie bis zum Tod bestehe.
Quelle: „Versammlung“ [Programm des „Vorläufigen Frankfurter Fronttheaters“] 1987. Zuletzt in: Gut und Böse. Gesammelte Untertreibungen in zwei Bänden. Hrs.g Volker Kühn. Zweitausendeins: Frankfurt am Main 2004. Band 2, S. 656 f.
Quo vadis, Deutschland? [1994]
Ave –
I had a dream last night:
Das antike Rom kehrt zurück, in der Mode und in der Politik.
Quo vadis, Deutschland?
Friends, Romans, Countrymen,
Begraben will ich Deutschland nicht, ich will es rühmen.
Ego sum Rühmann –
Deutschland ist ein schönes Land und liegt im Herzen Europas
und ist umzingelt von lauter Europäern.
Seit Jahrtausenden latschen die Völker der Welt
während der Völkerwanderungen durch Deutschland.
Nur wenige bleiben hier.
Die anderen verschwinden wieder, lassen uns mit uns alleine,
Aber die silbernen Löffel nehmen sie mit.
So entsteht bei uns Melancholie, Schwermut, wie wir sagen.
Denn es ist nicht leicht, in Deutschland zu leben,
Oft ist es sogar schwer, und dazu gehört Mut, Schwermut,
wie sie sich in unseren deutschen Liedern ausdrückt.
Wenn der Deutsche mit sich zusammensitzt,
abends am Lagerfeuer auf dem Grillplatz,
oft auch gemeinsam mit der Deutschin,
und wenn sie dann beide singen,
und sich die traurigen Gesänge erheben in den Himmel
und empor in die Nacht steigen hoch zu den Sternen, vorbei an den Kometen.
Überall auf der Welt summen die Menschen mit.
Sie summen mit, obwohl sie kein Wort verstehen,
in der Taiga – weniger in der Tundra, aber auch in Kasachstan,
in Kalifornien, in der Kalahari und im fernen Kaloderma.
Ja, Kannibal ante portas: Die Kannibalen stehn vor den Portas-Türen,
Aber dahinter lauern wir, die neobarbarischen Ex-Germanen.
Allein, einsam, verlassen von Gott und der Welt.
Ich sehe Deutschland: »Horror video«,
den Horror vacui, die Angst vor der Leere und der Gesellenprüfung.
1945 haben die Alliierten in Potsdam gesagt: Ceterum censeo.
Nun sind sie weg und wir haben Zeter und mordio.
50 lange und schöne Jahre nach der Landung
in der Normandie,
haben sie uns verlassen, die Alliierten.
Heute nacht im Traume – Sie erinnern sich: I had a dream last night –
erschien mir ein Stier mit einer schönen Frau darauf, die sprach:
»Deutschland ist ein schönes Land,
aber nur, wenn es ein besetztes Land ist.«
Als ich erwachte, sprach ich zu mir: So sei es!
Nie war nämlich Deutschland glücklicher als unter fremder Macht.
Als der Besatzungssoldat Elvis Presley zu uns kam
und uns den Rock 'n' Roll brachte,
als im Osten die Freunde, also die Sowjetsoldaten,
für alles verantwortlich waren
und die Menschen dort bös unterdrückten.
Kaum ist der Russe fort, ist der Ossi sauer.
Ja, nie sind die Deutschen glücklicher und freiheitstrunkener
als unter dem Joch einer fremden Besatzungsmacht.
Wie damals, als es besetzt war von römischen Legionären :
Varus, Varus, war da der Bär los im Teutoburger Wald.
Als Tusnelda und Hermann Detmold unsicher machten.
Und die Germanen waren glücklich, denn sie wußten noch nicht,
daß sie einmal Deutsche werden müssen,
Ihnen hat diese Information gefehlt.
Aber alle Wege, alle Datenautobahnen führen nach Rom, CD-Rom.
Rom ist der Cyberspace der Zukunft.
Der virtuelle Raum der Gnade, der katholischen Beichtkultur,
die wie ein Computer funktioniert:
von der Oblate zur Diskette.
Das schlechte Programm wird mit der Gnadentaste gelöscht,
und es kann wieder von vorne losgehen,
auch von hinten, wenn's Spaß macht:
von vorne ROMA – von hinten AMOR.
Man muß nur lesen können.
Roma, das ist der Trend, das ist die Mode:
Ars Armani, die Kunst der Männermode.
Das ist die Power: da der Albaner, hier die Romina Power.
Bis 1989 war Deutschland ein Platz im Zug der Geschichte:
Auf die Frage, ist hier noch was frei – konnten wir immer antworten:
Ja, hier ist frei, denn hier ist besetzt.
Deutschland ist keine Nation,
sondern ein leerstehendes Haus, das besetzt werden muß,
damit es nicht verrottet.
Das ist unser Vertrag mit der Vergangenheit.
Pacta sunt servanda: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich,
so funktioniert die Geschichte.
Wir zahlen Steuern – was macht der Staat?
Nihil, nichts, dafür macht die Regierung immer mehr Schulden.
Wir haben Angst – was macht der Staat?
Nihil, nickes, um uns vor Mädchenhändlern,
Rache-Russen und nihilistischen Hütchenspielern zu schützen.
Wir haben keinen Staat, wir haben eine Regierung.
Solange diese Regierung nicht abgewickelt ist,
zeigen wir dem Steuereintreiber den doppelten Effenberg
und handeln die Gebühren aus
mit unserem lokalen persönlichen Schutzgeldbeauftragten.
Der gibt uns einen guten Tarif
und schützt uns vor Verbrechen und Regierungskriminalität.
Manchmal reagiert er allerdings nervös:
»Ich dir schießen zweites Loch in Arsch,
dann du kannst scheißen stereo.«
Wir sehen, auch die Mafia ist noch keine Alternative,
denn sie funktioniert ja auch bloß
wie das Finanzamt und die Deutsche Bank.
Das stand neulich in der Berliner Tageszeitung taz,
Die kommt ja auch aus Rom.
Der Gründer der taz war ein gewisser Tacitus.
Das tut weh, aber noch nicht genug.
Denn Sie, das Publikum, die res publicas,
wollen was spüren, statt im Brei zu versinken:
Der Kanzler grinst, Europa kichert, hoffentlich Allianz versichert.
Dieses Abendland ist ein zahnloser Kalauer.
Sie wollen wieder Tragödie mit Biß:
Circus mit echten Löwen statt Roncalli mit Seifenblasen,
Christen, die wieder brennen vor innerer Begeisterung.
Das Abendland unterscheidet sich von der Antike
durch die Symbolfiguren der Liebe:
Statt Eros und Dionysos haben wir heute Jesus und Casanova.
Und wie unterscheiden die beiden sich?
Durch den unterschiedlichen Gesichtsausdruck beim Nageln.
Also laßt uns den fortschrittlichen Rückzug antreten:
Prämodern und appollin – da geht unsre Reise hin,
von hier aus direkt zu Caligula statt zu Johannes Rau.
Caligula hat ein Pferd zu seinem Minister gemacht
und nicht eine Ziege zum Kanzlerkandidaten.
Quelle: Solonummer aus: Reichspolterabend III: Fünf Männer stauben ab« BRD-Tournee 21.09.-15.10.1994. Mit Matthias Beltz, Achim Konejung, Heinrich Pachl, Arnulf Rating und Horst Schroth. Regie: Ulrich Waller. Zuletzt in: Gut und Böse. Gesammelte Untertreibungen in zwei Bänden. Hrs.g Volker Kühn. Zweitausendeins: Frankfurt am Main 2004. Band 2, S. 675-678.
Wer oder was ist der Mensch? [1994]
Was ist der Mensch? Was soll das, wer hat damit angefangen, mußte das überhaupt sein? Es gibt so schöne Naturgebiete, ach, Mallorca könnte eine so schöne Insel sein, wenn es nicht so viele Leute dort gäbe. Wann beginnt überhaupt menschliches Leben? Nach dem dritten Monat oder erst als Rentner? Wenn das der Fall ist, was ist dann mit der Fristenlösung?
Ist der Mensch im philosophisch-heideggerschen Sinne ins Leben gestellt, gesetzt oder gelegt – oder wie der Engländer sagt: put, put, put.
Der Mensch ist sehr praktisch. Wenn er auf die Welt kommt, ist er klein und handlich und besitzt einen Sender und einen Empfänger. Der Empfänger ist schon voll entwickelt, der Sender steht quasi auf null.
Alle Babies auf der Welt machen die gleichen Urgeräusche: Huhu und ein bißchen Gebrabbel, der Linguist spricht hier von einem restringierten Code, der aus dem Baby kommt. Aber der Empfänger ist hellwach.
Das Kleinkind kriegt sofort nach der Geburt all die Niedertracht und die Gemeinheiten mit. Denn der Mensch wird ja geboren, um beleidigt zu werden. »Du siehst ja aus wie der Opa« – was eine Tragödie sein kann, wenn es sich um ein Mädchen handelt.
»Wieso hat der denn so eine dunkle Haut?«
»Ich war doch kurz zuvor noch mal in Urlaub.«
All das kriegt das Kleinkind mit, es kann sich aber nicht wehren. Darum wird das gespeichert auf der Babyfestplatte, und was da drauf ist, das kommt in der Pubertät als Racheprogramm zurück und ist oft mit dem Erziehungsprogramm der Eltern nicht kompatibel. Das stürzt dann ab.
Interessant ist es, wie das dann weiter geht: Der Empfänger wird immer schwächer, der Sender immer stärker. Im Alter von ca. 25 Jahren sind beide ungefähr gleichstark. Ab 30 geht der Empfänger auf Null, der Sender auf Hundert. Das merkt man, wenn man mal auf einem Geburtstag von 40jährigen ist. Da schreien alle, aber es hört keiner mehr zu. Das muß auch nicht sein. Denn man sieht ja am Gesichtsausdruck des anderen, was der so ungefähr hat sagen wollen. Und das ist seit 20 Jahren nichts Neues.
Ja, so wird man ruhiger, wenn man älter wird, weil man dann nichts mehr mitkriegt. Oder haben Sie schon mal von einer Massenschlägerei von Senioren in der Kneipe gehört? Das ist keine Frage der Fitneß, sondern der Information.
Ich habe auch über mich nachgedacht. Wo war ich überall noch nicht? Ich war fast überall noch nicht. Noch nicht einmal in Miami, obwohl man da bloß eine Hinflugkarte braucht, es sei denn, man will unbedingt über Düsseldorf zurück, um sich noch ein paar warme Tage zu machen.
Oder was kann ich alles nicht. Ich kann fast alles nicht, aber heute rege ich mich nicht mehr darüber auf.
Nur eins ist schade, das wollte ich immer können: Stillen. Ich habe keinen Schwangerschaftsneid, ich bin ja nicht Arnold Schwarzenegger, aber Stillen, das Stillegen eines anderen Menschen ohne Gewalt, das ist etwas Schönes, das können wir nicht.
Und so hatte ich immer das Gefühl, was Besonderes zu sein, was besonders Abartiges, nämlich ein weißer, gesunder, heterosexueller, berufstätiger Mann aus Oberhessen. Das sind sechs unsichtbare Behinderungen.
Solonummer 1994. Quelle: Gut und Böse. Gesammelte Untertreibungen in zwei Bänden. Hrsg. Volker Kühn. Zweitausendeins: Frankfurt am Main 2004, Band 1, S. 452 f.
Moral auf der Bühne [1998]
Und jetzt etwas ganz anderes. Pro domo, contra malum. Für mich und gegen das Schlechte. Kabarett und Moral bilden keine Einheit, aber ein Thema.Der Kabarettist ist ein vorwärtsgewandter Historiker. Mit dem Material der Gegenwart, in der sich die Geschichte zwischenlagert, gibt er Prognosen ab für die Zukunft. Dabei kommt es auf Genauigkeit an und nicht auf Werturteile. Die gehören zum Material und sind modeabhängig und gestaltbar. Also brauchen wir Märchen, Mythen und Gleichgültigkeit statt den unabdingbaren Wunsch zur Veränderung der Welt. Das tut die auch ohne unser Zutun. Kabarett will nicht beschleunigen, sondern legt eine Atempause ein.
Ein Werturteil ist bloß ein Ton in der Tanzmusik, ein Werturteil ist die Entscheidung des Freiers, überhaupt des Kunden. Bei Aldi werden zu Recht Werturteile gefällt, nicht auf der Bühne, da werden sie nur vorgeführt. Kabarett entspricht eher der Tragödie als der Komödie und beschäftigt sich mit Politik.
Politik ist der ewige Kampf um kulturelle Normen, die das Zusammenleben regeln sollen: Was ist gut, was böse, darf man Sterbewillige umbringen, welche Gewalt ist prima, welche pfui, wen darf man unter welchen Umständen verletzen, mit wem darf man sich wie vergnügen? Dieser Kampf wird vorübergehend durch Gesetze geregelt. Aber auch das Gesetz ist nur eine Übergangslösung. Jede Generation träumt sich ihre Kultur wieder neu, und die Überlieferung aus alten Zeiten ist nicht mehr heilig, sondern steht zur Disposition. So schräg sind die Zeiten.
Nicht dem Pathos und der Erhebung der politisch Handelnden in den Heldenstand dient das Kabarett, es benutzt Schadenfreude und Verachtung jeglicher Schwäche als Mittel, um in diesem Jahrhundert noch einmal herauszubekommen, was dran ist an den Menschen. Spießer und Massenmörder, Arschgesichter und Langweiler, Nachbarn und Verwandte – sie sind trotz alledem Menschen, und das gilt es immer wieder darzustellen.
Erst muß er fertiggemacht werden, der Mensch, und zur Sau, zerlegt in alle Einzelteile seiner historischen Überflüssigkeit, da soll kein gutes Haar dran bleiben, und wenn er dergestalt zerstört und auf den Hund gekommen ist, dann wird er schnell wieder neu zusammengesetzt, und übrig bleibt nach der intellektuellen Einsicht in die absolute Unmöglichkeit von Freiheit und Sozialismus, die gerade ad hominem demonstriert wurde, überraschend die frohe Erwartung auf die Verbesserung Gesamteuropas.
Doch vorher muß der ganze Humanismus und Idealismus zerstört werden und der Traum von Menschenrechten, da bleibt keine Moralvorstellung übrig. Denn nichts ist normaler, als daß Menschen sich Unrecht antun und Gemeinheit, die Welt ist ein Schlachthaus, wir lachen nicht trotz Auschwitz, sondern wegen des europäischen Massenmordes an den Juden. Wir lachen, weil der Mensch so komisch ist und zu jeder Schandtat bereit, selbst zu der, die wir uns noch gar nicht ausdenken können. Und wir finden die alten Nazis auf der Bühne und im Publikum, heute abend tarnen sie sich als zivilisierte Kulturmenschen, aber nur ein Ruck, der durchs Volk geht, ist nötig, um uns alle zu reißenden Wölfen oder SS-Männern zu machen. Das ist überhaupt nicht lustig, aber enorm komisch. Komisch ist es, wenn Heinrich Himmler einmal zum Lobe seiner vom Staate angestellten Mörder gesagt hat: »Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen zusammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei ... anständig geblieben zu sein« – das sei »ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«
Die Komödie grenzt so was aus, das Kabarett aber hat nur ein Thema: Lachen nach Auschwitz.
Daher kann es kein Niveau geben, unter dem das Publikum lacht. Es sind die Armen im Geiste, die sich nach einer Vorstellung beklagen, sie hätten sich unter ihrem Niveau amüsiert. Da liegt ein Irrtum vor. Unter diesen Menschen ist kein Niveau, nur der Fußboden, auf dem sie zu stehen vermeinen. Die beherrschenden Figuren des 20. Jahrhunderts, Kleinbürger und Kleinbürgerin, aber rufen nach Instanzen, nach Autoritäten, die Moral vermitteln sollen. »Werte, wir wollen Werte«, rufen die Leute, was nichts anderes heißt, als: »Wir wollen nicht wertlos sein.«
Da steht der Kleinbürger vor seinesgleichen, erkennt sich in den anderen, und weiß nicht, ob er weinen soll aus Mitleid oder Schamgefühl.
Beides falsch. Geh ins Kabarett, du Lump, damit du nicht versinkst in Selbstbeweihräucherung und ziellosen Anklagen gegen die anderen, die immer schuld sind.
Kabarett ist also ein Abbruchunternehmen mit eingebauter Wiederaufbauleistung.
Quelle: Gute Nacht, Europa, wo immer du auch bist. Blessing. München 1998, S. 197 - 199
Deutschland – ein Fußballmärchen [1990]
Es war einmal ein Volk, das fühlte sich so verarscht von der ganzen Welt, daß es sich die Deutschen nannte. Schon in der Volksschule wollte niemand mit ihm Völkerball spielen.
Da beschloß das deutsche Volk in einer dunklen Stunde, Fußballweltmeister zu werden. Und so gaben sich die Deutschen eine Nationalhymne, und die hieß: Deutschland vor, noch ein Tor. Der Refrain aber lautete: Olé – olé – oléoléolé. Mit einem dreifach donnernden Hurra zog nun die deutsche Mannschaft in der 14. Minute auf das Spielfeld von Verdun. Nach einer heftigen Materialschlacht schien in der 18. Minute das Spiel verloren. Da waren die Deutschen beleidigt und verpatzten sogar ihre eigene Revolution. Nach Kleinklein-Spiel im eigenen Raum wurde in der 33. Minute der Spielführer ausgewechselt. Da freuten sich die Deutschen und stürmten wie in alten Tagen, ja, das ganze deutsche Volk schien aus lauter Stürmern zu bestehen.
So kam es denn auch in der 38. Minute zum Anschlußtreffer gegen Österreich. In der 39. Minute wurde in alle Himmelsrichtungen geschossen, so daß der Sieg bald nahe schien. Doch in der 42. Minute geriet die deutsche Mannschaft in die sibirische Abseitsfalle. Da fiel die Manndeckung aus, und der Rückzug mußte angetreten werden. In der 45. Minute schon schien das Spiel bedingungslos verloren zu sein.
Doch da kam der alte Reichstrainer Sepp Herberger und sprach: Jedes Spiel dauert aber doch 90 Minuten, also laßt uns nicht die Fehler der 1. Halbzeit diskutieren, sondern die Socken hochkrempeln und wieder tüchtig zutreten. Denn der Ball ist rund, und das nächste Spiel ist immer das schwerste. Diese Sätze wurden später von den Verfassungsvätern wieder aufgegriffen und bilden den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundgewerbeordnung.
Nun braucht aber jede Fußballmannschaft, um wirklich gut zu sein, einen Trainingspartner. Da alle sonst ausgerottet waren, holte sich die deutsche Mannschaft die Kommunisten und verdrosch sie wie in alten Zeiten. Die Kommunisten jedoch wollten selber Fußball spielen und nicht Punchingball sein. Darum gründeten sie in der 49. Minute einen eigenen Verein und nannten sich Dynamo DDR Lokomotive.
In der 53. Minute kam es zu Rangeleien im Strafraum vor dem Brandenburger Tor, so daß in der 61. Minute auf beiden Seiten stark gemauert wurde. In der 69. Minute sorgte der neue Schiedsrichter Willy Brandt für vorübergehende Entspannung.
In der 89. Minute aber stürmten plötzlich lauter Brüder und Schwestern, die bisher hinter dem großen Absperrgitter saßen, das Spielfeld. Und so fragen wir uns nunmehr: Kommt es in der 90. Minute zum Endsieg? Oder braucht das deutsche Volk noch eine Verlängerung?
Quelle: Gnade für niemand – Freispruch für alle. Ammann Verlag: Zürich 1990, S. 39 f.
The Making of Kabarett [2000]
Das letzte große Rätsel der Menschheitsgeschichte ist, wie es zu einem Kabarettprogramm kommt. Zumindest drängt sich dem Kabarettisten diese Frage immer wieder auf, ist sie doch die am häufigsten an ihn herangetragene. Weil die Welt als eine ungeheure Ansammlung kabarettreifen Blödsinns erscheint, ist es also die Aufgabe des Kabarettisten, auszuwählen aus der Unmenge des Stoffes. Da gibt es Literatur und Kollegen, von denen Passendes zu stehlen, zu kopieren und zu variieren ist. Das Wichtigste aber ist zwangsläufig die Wirklichkeit, das Leben in einem umfassenden Sinn. Denn das Leben schreibt die spannendsten Geschichten, das weiß doch heut ein jeder und sagts einem auch. »Gell«, sagen die Leute, »das ist doch eine gute Zeit fürs Kabarett, der Stoff liegt auf der Straße, ihr müßt ihn nur aufsammeln.«
Die Leute haben recht. »Ich könnt Ihnen Geschichten erzählen«, sagen die Leute, »die sind viel verrückter als Ihr Programm.« Denn was die Leute in ihrem Alltag erleben, stellt die Kunst schwer in den Schatten. Das Leben ist prall und bunt, die Bühne bietet dagegen nur schalen Ersatz.
Trost schenkt mir, daß die Leute, die all das wirklich Komische, Absurde und Tragische erleben, zu wenig Zeit haben, es aufzuschreiben oder einfach öffentlich zu erzählen. Dadurch kann unsereins bei der bedrohlichen Konkurrenz durch die Leute doch noch sich durchmogeln mit seinen kleinen Geschichten, die so erbärmlich abstinken gegen die Erfahrungen all der anderen Leute.
Quelle: Eigenes Konto. Wenn alles sich rechnet + niemand bezahlt. .TRANSIT: Berlin 2000, S. 59
Balkanisierung in der Straßenbahn [1998]
Ach, wie ging es seinerzeit hoch her in England, Protestanten kämpften gegen Katholiken und diese gegen jene und alle gegen alle, Haß gab's bis aufs Blut, weil man gezwungen war, in einem Land, auf einer Insel, in einem engen Raum zusammen zu existieren, als es noch keinen Notausgang zum Festland gab wie heute den Tunnel nach Frankreich.
Ein solches Miteinandersein ohne viel Raum produziert eine Stimmung wie, ja, wie bei uns in der Straßenbahn.
Beispiel: Die Linie 11 in Frankfurt. Sie ist eine Erlebnisstraßenbahn und führt von Ost nach West und von West nach Ost. Von Fechenheim nach Höchst und wieder zurück. Schon die Endstationen fallen auf durch gute Namen: Schießhüttenplatz und Zuckschwerdtstraße; das verspricht keinen Pazifismus für Arme – so wie Friedensbrücke und Albert-Schweitzer-Straße.
Die Fahrt geht über Alt-Fechenheim, Mainkur, Hugo-Junkers-Straße, hier haben wir die Casella-Werke passiert, eine Hoechst-Tochter, weshalb auch bei denen immer mal wieder ein Rohr platzt und die armen eingesperrten Gifte freigibt, auf der anderen Straßenseite winkt Jadefix-Braun, was hier aber keiner nimmt, hat doch der Mensch hier sowieso eine Lederhaut. Dennoch ist es eine Übertreibung zu sagen, weil die Leute eine Haut wie Leder besäßen, würden sie mit der Wange die Fensterscheiben putzen.
Unsere Rundfahrt führt uns beim Versandhaus Neckermann vorbei und wir erinnern uns an den alten Politspruch: »Wer bescheißt den kleinen Mann? – Neckermann! Neckermann!«
Interessant wird es ab Zoo, hier beginnt nordafrikanisches Basarwesen, da steigen junge aufstrebende Geschäftsleute zu und kontrollieren die Warendepots unter den Sitzen und oben hinter den Klappen: Schwarzer Afghan, roter Libanese. Wo muß nachgefüllt werden, was wird gerade draußen verlangt? Die ganz harten Sachen sind in Jugo- und Albaner-Hand.
Der Markt endet am Börneplatz, der früher Adolf-Hitler-Platz hieß, dazwischen Dominikanerplatz, damit der historische Bruch nicht so hart ist zwischen Adolf Hitler und Ludwig Börne.
Hier stehen die Stadtwerke in ihrem beeindruckenden Neubau und sind zuständig für Strom, Wasser und Gas, und deshalb weist in diesem Haus ein kleines Erinnerungsmuseum auf das jüdische Viertel hin, das sich hier früher einmal erstreckte. Ja, Frankfurter Humor läßt sich nicht unterdrücken.
Dann fahren wir am Römer vorbei, hier sitzt die Stadtregierung, der Magistrat, nicht hinter Gittern, sondern vor unlösbaren Aufgaben.
Die Straßenbahnlinie 11, das ist quasi der Orient-Express. In diesem öffentlichen Verkehrsmittel siehst du, wo der Hammer hängt. Da müßte mein Nachbar täglich mitfahren, mit der Linie 11, damit er sich endlich mit der Wirklichkeit der Realität konfrontiert und nicht immer nur umgekehrt.
Ich mache dort immer mal wieder meine Beobachtungen, daß man weiß: Sei vorsichtig, überall – nicht nur Rosen. Ja, ja. Auch Dornen.
Und da war neulich folgende Situation. Zwei Männer und eine Frau steigen ein, kann Allerheiligentor gewesen sein oder auch am Hauptbahnhof, alle drei verbreiten wohlbekannte süße Düfte – diese Herbstmischung aus Export und Jägermeister-Import – und der eine Mann sagt zu der Frau, was man halt so sagt in der Straßenbahn, wenn man gut drauf ist, sagt der Mann: »Hey, blas mir mal einen.«
Die Frau macht das, kein Problem für sie. Und da sagt der andere Mann, daß er auch einmal möchte, und das macht sie dann genauso ohne großes Getue.
Nur der Straßenbahnfahrer – Schaffner gibt's ja schon lange keine mehr, damit heute Schwarze Sheriffs privat für Ordnung sorgen können – der Fahrer sagt, als sich ein Fahrgast beschwert, sowas kam öfter vor in der Linie 11, er mischt sich da auch nicht ein, das hat ihm seine Frau verboten.
Die Geschichte war in der Frankfurter Rundschau auch nicht besonders aufgeblasen – Erregung öffentlichen Ärgernisses ist bei der Linie 11 im Fahrpreis inbegriffen. So lohnt sich auch mal eine Tageskarte. Und wenn Besuch kommt von außerhalb, nimmt man ihn mit auf die Reise durch die spätkapitalistische Zivilgesellschaft, und an der Haltestelle Hauptbahnhof ist es dann ein leichtes, sich für längere Zeit zu verabschieden.
Als Deutscher bist du in dieser Bahn eine Besonderheit, quasi ein Fremder. Ich wollte immer was Besonderes sein. In der Linie 11 erfüllt sich dieser Traum. Ja, da wirst du angeguckt als Fremder unter Fremden.
Das klingt so, als hätte ich was gegen Ausländer? Stimmt. Aber ich habe auch was gegen Deutsche. Besonders gegen die, die sich über Ausländer beschweren. Anstatt, daß sie sich freuen, daß sie was zu meckern haben.
Neulich saß ein rabenschwarzer Neger in der Bahn, da kamen so zwei Glatzebuben rein, die immer rufen »Deutschland den Deutschen«, weil sie selber noch nichts geleistet haben für Deutschland.
Die sehen den Neger und schreien rum: »Gucke mal, ein Schwarzfahrer«. Da habe ich zu denen gesagt: »Wenn man als Deutscher einen Raum betritt, Kameraden, dann sagt man Guten Tag oder mindestens Heil Hitler – wegen der Höflichkeit.« Und außerdem: »Bevor es in Deutschland Deutsche gab, sind hier lauter Ausländer rumgelaufen: Franken, Chatten, Alemannen, Kelten, Goten und Vandalen, dann noch Römer. Deutsche gibt's hier erst seit dreihundert Jahren, also spielt euch nicht so auf, ihr Einwanderer.«
Und wie sie gemault haben, die Nazibuben, da habe ich sie angeschrien: »Deutsch sein, heißt das Maul halten, wenn ein Erwachsener mit euch spricht. Schultz! Unsere Treue heißt Ruhe – und sitz!«
Da waren sie ruhig. Der Ton macht die Musik – da hilft kein Techno und Pop, klare Klänge braucht das Volk.
Und das gilt auch für Europa. Europa ist unsere Zukunft, das wird furchtbar. Europa, was ist das? Eine Schießbude – überall wird geschossen. Ein Jahrmarkt – alle sagen Ja zum Markt. Immer, wenn etwas zusammenkommt, um zusammen zu bleiben, was nicht zusammengehört, ist das furchtbar.
Männer und Frauen – furchtbar. Deutsche und Deutsche – auch furchtbar. Europa, sagen wir es mal so, ist, wie wenn man mit einer Gruppe in die Kneipe zum Griechen geht – und alle wollen mal schön einen Grillteller essen, Platte Akropolis. Und dann kommt der Wirt, gibt jedem einen Ouzo und sagt mit seinem pfiffigen Grinsen: »Prima, Grillteller für jeden, ich machen euch da eine schöne große Teller für euch alle zusammen, könnt ihr gemeinsam von essen.«
Und dann kommt der Teller, und jeder kriegt nur die Hälfte von dem, was er bekommen hätte, wenn er für sich allein bestellt hätte. Und genauso ist es mit Europa.
Quelle: Notschlachten - Die 7 Weltverbrechen. TRANSIT: Berlin 1998, S. 39-42